Montierte Wirklichkeiten – fremdartige anatomische Wildnis – düstere Reisen in die Einöden des Unterbewusstseins …
Das bildnerische Universum des Künstlers Alexander Sterzel mutet oft düster und bedrohlich an, (alp)traumhafte Visionen scheinen sich mit wissenschaftlichen Ansätzen zu vermischen, Collagen und Gemälde zeigen uns verwirrende Kombinationen von Sujets, die eine Suche nach Wahrheiten im Irrgarten zwischen Realität und Wahn, Traum und Wirklichkeit anzuführen scheinen. Visuell und inhaltlich finden sich Anleihen, die einen Zwiespalt zwischen Wissenschaft und Mystik aufzuzeigen scheinen, der zwischen Humor und Verzweiflung, mit Groteskem und Geheimnisvollem ausgefochten wird. Beschäftigt man sich eingehender mit dem Künstler und seiner Arbeitsweise, kommt man nicht umhin, ihn auch in der Tradition des Surrealismus zu sehen und damit beziehe ich mich nicht so sehr auf die bildnerischen Sujets, als auf dessen theoretische Ansätze.
Dabei spielt auch die Entwicklung neuer, dieser Intention gerecht werdender, Arbeitsweisen eine große Rolle; Max Ernsts ‚Entdeckung’ der „Frottage“ und „Grattage“ oder in der Literatur die „écriture automatique“, veranschaulichen den Willen zur Unmittelbarkeit des Arbeitsprozesses mit am deutlichsten.
Alexander
Sterzel entdeckt auf seine Weise Welten hinter unserer Realität – seine
„montierten Wirklichkeiten“. Auch in ihnen zerfließen die Grenzen zwischen
Rationalem und Irrealem. Und diese „montierten Wirklichkeiten“ von Alexander
Sterzel entstehen in einem Arbeitsprozess, der als „unmittelbar“ bezeichnet
werden kann, denn diese kleinformatigen Werkreihen werden in der Regel relativ
schnell und ohne Unterbrechung generiert, oft mehrere hintereinander, kleinen
Zyklen gleich. Als Material dienen ihm alte Buchdeckel, alte Fotografien, Seiten
aus alten Büchern bzw. daraus Ausgeschnittenes ... , diese kombiniert er
miteinander in Form von Collagen. Hinzukommen eigene Fotografien oder meistens
Farbe bzw. schwarze Tusche - er übermalt, klebt, setzt Schicht auf Schicht, um
so in die Schichten des Unterbewussten vorzudringen. Durch die Relikte aus
unterschiedlichen, lang vergangenen Dekaden des mittlerweile vorherigen
Jahrhunderts, gewissermaßen „historische Dokumente“, werden oftmals
geschichtliche Assoziationen auch an traurige und grausige Kapitel des 20.
Jahrhunderts geweckt … so viele unterschiedliche flüchtige Momente dieser
Wirklichkeiten zeigen „eingefroren“ verschiedene Bewusstseins- und
Realitäts-“Schichten“.
Was mit den Collagen der „montierten Wirklichkeiten“ begann, wird in der „fremdartigen anatomischen Wildnis“ – der Rückkehr zur großformatigen Malerei – weitergeführt und weiterbearbeitet, der Ansatz reift weiter aus und durch den Transport auf die große Leinwand1 wird eine andere, stärkere, intensivere Bedeutungs- und Wirkungsebene erreicht, bekommen die Inhalte eine ganz andere Gewichtung. Und hier sind wir an einem entscheidenden Punkt in der Entwicklung des Künstlers, der sich jahrelang der Fotografie, seinen „montierten Wirklichkeiten“ wie er seine Collage-Werk-Zyklen selbst benannte und vielen anderen Tätigkeiten und Experimenten2 widmete, bis er sich nach einigen Jahren, in denen er die große Leinwand mied, entscheidet, zu ihr zurückzukehren.3 Was noch schnell und „unmittelbar“ in kleinen Formaten entstand, wird nun in länger währenden, intensiveren Arbeitsprozessen in eine andere Dimension transportiert, deren Wirkung sich der Betrachter nicht entziehen kann.
Nähert sich der Betrachter den leise auf ihre Reisen lockenden „montierten Wirklichkeiten“ noch ganz vorsichtig an, um all diese seltsamen kleinen Welten, Momente, Geheimnisse zu entdecken, so ist er der aktive Entdecker, welchem die Arbeiten oftmals als kleine zaghafte Mahnmale unbekannter aber vermutlich tragischer Schicksale oder Alpträume anmuten, welche der Rezipient sich – manchmal beinahe von einem Gefühl der Indiskretion beschlichen – aneignet. Die „fremdartige anatomische Wildnis“ hingegen – wie Sterzel diese Serie von großformatigen Leinwänden nennt – ist lauter, aggressiver; sie fordert uns heraus. Sie lässt uns erschauern, dann wieder lächeln, doch dann schreit sie uns wild etwas ins Gesicht – was wir vielleicht nicht verstehen, aber auf jeden Fall fasziniert es, zwingt zum genauer Hinschauen und zum Versuch, zu erfassen, was uns da konfrontiert. Nach der ersten Wirkung kann man sich auf die Details konzentrieren: so finden sich Textfragmente in unterschiedlichen Sprachen, oft kaum zu dechiffrieren, medizinische Darstellungen, mathematische Formeln, militärische Anleihen, manche vom Künstler selbst generierten Symbole oder „Codes“ kann man wiederfinden4.
In Reihe betrachtet erscheinen sie wie Fragen nach der menschlichen Existenz, und der mit ihr verbundenen Grausamkeit – bildnerische Annäherungen, die philosophische, literarische, geschichtliche, medizinische, religiöse und mathematische Ansätze und Fragmente kombinieren, Fragen aufwerfen, Verwirrung stiften. In ihrer düsteren Aggressivität, in dieser „Wildnis“ der menschlichen Unzulänglichkeit, geplagt von Gewalt, Krankheit und Irrungen, in dieser grausamen von Traurigkeit, Schmerz, Ekel, Angst, Lähmung, Ausschlägen und Auswüchsen – Auswucherungen unterschiedlicher ‚fühlerhafter’ Art, die sich auch als gemalte Motive immer wieder finden, an Köpfen und anderen Körperteilen – „Anatomie“ des Daseins, werden auch Assoziationen an Lautréamonts „Chants de Maldoror“ geweckt. Diese „Gesänge“, 1869 verfasst, gelten bis heute als eines der umstrittensten literarische Werke, dessen Bedeutung erst von den Surrealisten entdeckt wurde und großen Einfluß auf sie ausübte. Maldoror ist ein zerschmetterter Engel, die Inkarnation des Bösen schlechthin, der sich auf unserem Planeten eingefunden hat, um der verhassten Menschheit ihre eigene Schlechtigkeit vor Augen zu halten. Doch bei all den Greueltaten, die er begeht, leidet er auch selbst: „Ich bin schmutzig. Die Läuse zerfressen mich. Die Säue erbrechen sich, wenn sie mich sehen. Der Krusten und der Grind der Lepra haben meine Haut mit Schuppen und gelblichem Eiter bedeckt. Ich kenne das Wasser der Flüsse nicht, nicht den Tau der Wolken. Auf meinem Nacken wächst wie auf einem Misthaufen ein gewaltiger Pilz mit doldentragenden Stengeln. Ich sitze auf einem unförmigen Möbel und habe meine Glieder seit vier Jahrhunderten nicht bewegt.“[5]
„Ich habe das Leben wie eine Wunde empfangen, und ich habe dem Selbstmord verboten, die Narbe zu heilen. Ich will, dass der Schöpfer zu jeder Stunde seiner Ewigkeit den klaffenden Riss betrachte. Das ist die Sühne, die ich ihm auferlege.“[6]
So viele Fragen tun sich auf, doch wer kann je alle Antworten geben. Indessen kann der Rezipient über Bezüge sinnen, sich Gedanken über Komposition und Material machen …, am besten jedoch lässt er zunächst auch seinen unterbewussten und bewussten Eindrücken und Gedanken freien Lauf, so können unendliche Assziationsketten entstehen … – die beste Lesart zwischen all den Wahrnehmungsebenen, in der „Wildnis“ jenseits rationaler Realität und Wirklichkeit – denn jeder muss seine eigenen Fragen und Antworten finden – die eine Wahrheit, die gibt es nicht.
1 wir reden hier von einem Weg von ungefähren DIN A4 oder 5 Formaten und noch kleineren zu 1,20 x 1m großen Leinwänden 2 Alexander Sterzel ist auch Musiker, Komponist und arbeitet schon geraume Zeit an einem Theaterprojekt 3 Wozu ich ihn übrigens auch stets zu ermutigen suchte 4 So taucht beispielsweise das „KokaKolaGoGoGirl“ mehrfach auf [5] Lautréamont: Die Gesänge des Maldoror. Rowohlt. Reinbek bei Hamburg, 2004. 4. Gesang, 4. Strophe, S. 158. [6] ders. 3. Gesang, 1. Strophe, S.117.
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